Montag, 2. Januar 2012

Unterwegs als Assistent

M. ist Mitte 30, mehrfach schwer behindert, arbeitet im PR-Bereich einer gemeinnützigen Organisation im Speckgürtel einer mittleren norddeutschen Großstadt.
Vor den Weihnachtsfeiertagen sollten als kleines Dankeschön seines Arbeitgebers Kalender an einige der Sponsoren persönlich verteilt werden.
Weil das zugestandene Stundenkontingent der Helfer bereits aufgebraucht war, musste freiwillige Hilfe das Loch füllen.
Bei dieser günstigen Gelegenheit beobachtete ich:
Mit dem ersten Adressaten war ein fester Termin abgemacht, aber niemand war da. Traf sich aber gut, denn die vielen Stufen zum Haus hätte M. in seinem Rollstuhl auch mit Hilfe nie schaffen können.
Dass einige der anderen Adressaten nicht persönlich anzutreffen waren, ist ok, freundliche Vertretungen wollten die Kalender weiterreichen.
Ein Empfänger residiert im ersten Stock, kleine Stufen in der Lobby, eine lange Treppe, aber Fahrstuhl "Außer Betrieb".
Ein anderer Empfänger, Planungsbüro im Erdgeschoss, kam jovial heraus und sprach mich, den Rollstuhlschieber,  an;  als M. dann seine Erklärung, seinen Dank und die Wünsche überbrachte, duzte unser Partner ihn ohne Hemmung und schlechtes Gewissen.
Am besten  behandelt wurde M. bei Partnern ebenfalls aus dem sozialen Bereich.
Schließlich noch eine Behörde: Eingang für Behinderte über den Hof. Behindertenparkplatz zugestellt von Handwerkerfahrzeug. Zugang über eine nicht ganz normgerechte Rampe, aber davor ein tiefes Schlagloch voller Wasser. Innen eine Klingel in Augenhöhe von "Normalos", bei der letztes Jahr auch noch die Batterie leer war. Dieses Jahr - wohl wegen der Handwerker - lag ein Keil dazwischen; auf der Innenseite der Tür die Aufforderung "Tür immer schließen". An der Anmeldung ein Schild: "Nicht besetzt, bitte melden in Zimmer x". Dort eine Doppeltür, der zu öffnende Flügel passt aber auch so gerade, kaum ein Blatt Papier hätte noch dazwischen gepasst. Innen - hinter den auf dem Boden verteilten Aktenbergen - zwei junge Leute, die interessiert zuguckten, aber keine Anstalten zur Hilfe machten (z.B. den zweiten Flügel zu öffnen). Rückwärts dann die gleiche Prozedur.
Barrierefrei: ohne zusätzliche Hilfen in der allgemein üblichen Form - naja, wäre ja auch für Normalos etwas beschwerlich gewesen.
Ein knapper Tag Assistenz für mich, einige Notizen; das ganze Leben so für M., wahrscheinlich mindestens ein ganzes Buch - neben den Magengeschwüren und vielen unerreichbaren  Möglichkeiten.

Sonntag, 1. Januar 2012

Was wollen die?

Ganz aufgeregt ruft Frau L. an.
Sie hat einen Brief bekommen von Kabel Deutschland, man werde Ihren Anschluss deaktivieren, unter Umständen könne sie dann nicht mehr fernsehen.
Nun ist aber das Fernsehen eine der noch verbliebenen, wenigen Verbindungen zu ihrer Außenwelt; Hallo, ich brauche dringend Ihre Hilfe, hat sie auf dem AB hinterlassen.
Alles halb so schlimm, stellt sich heraus: vor Jahren, da lebte ihr Sohn noch und der hat sich um alles gekümmert, wurde zwar eine Zuleitung gelegt, aber nie benötigt, sie hat keinen Vertrag mit Kabel Deutschland.
Die Techniker werden die Verbindung wahrscheinlich irgendwo an einem Verteiler kappen. Der Anbieter aber wollte wohl mit dem Schreiben Frau L. auf sein günstiges Angebot hinweisen und ein bisschen unter Druck setzen.
Das aber geht manchmal älteren Menschen ganz schön an die Nerven und verursacht Bluthochdruck und schlaflose Nächte.
Geschäftsbriefe sind sicher korrekt und formal, aber aufgrund unserer demografischen Entwicklung sollten die Profis sicher auch ein bisschen die Situation der Empfänger berücksichtigen.